Anne,
70 Jahre, Altenberge b. Münster


Ja, das war 1961, ich war mit dem dritten Kind schwanger, im dritten Monat hatte ich das Radio an und hörte dann plötzlich, dass die Dame da sagte: "Alle Frauen, die schwanger sind und Contergan nehmen bitte sofort mit dem Arzt in Verbindung setzen." Das hab ich dann auch gemacht . Ich hab Karl Heinz angerufen, dann sind wir zusammen zur Ärztin. Sie wollte uns auch schon benachrichtigen, weil sie sagte, sie hat das ja alles in der Kartei von den Frauen, die schwanger sind und Contergan nehmen. Es war auf jeden Fall, das war ein Super Zeug, da wurdest du ruhig. Ich hatte ja auch schon zwei Kinder, ich brauchte ja meine Nachtruhe auch. Aber dann dieser Schock, dieser Schock. Als ich dann fragte: "Kann das denn, kann das denn irgendwas ergeben?" Das haben die natürlich nicht gesagt am Fernsehen. Und dann sagt sie: "Ja, es kann vielleicht eine Behinderung geben, aber das muss nicht sein."

Frage: "Gab's denn schon die ersten behinderten Kinder?"

Ja, die waren geboren, Frank ist ja 61 geboren. Ab 60 geht das. Da haben die das festgestellt und haben das dann kontrolliert und sich gefragt: "Mein Gott, kann das denn sein. So und soviel Kinder?" Und dann sind die auf dieses Contergan gekommen. Dann wurden alle Ärzte sofort benachrichtigt. -Kleine Pause- Ja, und das waren natürlich unheimlich lange sechs Monate. Dann war der Geburtstermin, der war Anfang Dezember. Da musste ich eine Woche vorher ins Krankenhaus, weil sich gar nichts mehr tat bei mir, keine Bewegungen, nichts. Da habe ich gedacht: ´Mensch, vielleicht ist das Kind tot'. Es gab ja nicht wie heute Ultraschall, das gabs ja alles nicht. Es wurde abgehört und es wurd gesagt: "Es ist in Ordnung, das Kind, es bewegt sich auch" Aber man macht sich dann so viele Gedanken. ´Bewegt es sich denn auch so viel wie die anderen Beiden.' Ich denk: 'Wenn es jetzt vielleicht nur ein Ärmchen hat oder ein Beinchen, das kann dann ja gar nicht so weit.'

Frage: "Und bei dem halben Jahr Wartezeit hat man sich wahrscheinlich dann auch mehr und mehr..."

Ich hab mich da reingesteigert. Ich hab mich da völlig reingesteigert. Und dann gab's diese ganzen Berichte im Radio und in der Zeitung. Und man denkt sich: 'Du hast es nun auch genommen, in welchem Monat bist du denn? Wie gesagt, ich habs ja fast drei Monate genommen. Und das schlimmste ist ja die ersten drei Monate. -Kleine Pause- Ja, und dann kam ich also ins Krankenhaus und da wollten die die Geburt einleiten. Dann hatte ich neben mir im Kreissaal erst mal eine Frau, die dann das Kind geboren hat, das keine Arme hatte. Und das Schreien, dieses, dieses, hab ich noch im Ohr. Dann kam der Arzt zu mir und sagte: "Bitte machen Sie sich nicht verrückt. Das klappt schon, das ist bestimmt gesund. Das muss ja nicht immer sein. Es sind gerade auch zwei Kinder geboren, die normal geboren sind, ohne Contergan allerdings. Es muss ja nicht immer sein." Ja und dann: "Frau Gehrmann muss vom Kreissaal runter, die hält das nicht mehr aus."

Frage: "Waren denn die anderen Frauen auch da?"

Ja, die Kreissäle waren abgeteilt nur durch einen Vorhang. Ich konnte die Frauen nicht sehen, die mich auch nicht, aber hören. Ja, und man möchte ja auch gern, dass das Kind kommt. Die Zeit ist um. Dann macht man sich Gedanken, dass was ist. Dann wieder aufs Zimmer. Am nächsten Tag wieder eingeleitet worden. Ich bin, glaube ich wohl vier- fünfmal eingeleitet worden. Für den Kaiserschnitt war es zu tief schon. Dann war der Moment da. Ich bekam ne Spritze und - Pause- ich war völlig weg. Ich war eine Woche gar nicht ansprechbar. Ich konnt's auch gar nicht fassen, dass ich, ausgerechnet ich ein gesundes Kind hatte. Ich durft noch keinen Besuch empfangen - Karl Heinz durfte abends ne Viertelstunde kommen, mehr nicht- aber ich hatte die ganze Zeit den Frank bei mir. Also ich hab auch immer gefühlt, ob der auch alles hat, die ersten zwei Tage. Dann sagte der Frauenarzt: "Wissen sie was. Ich packe ihnen jetzt mal den Kleinen aus, dann sehen sie, dass der alles hat. Wir haben es schon mal gemacht, aber sie haben es nicht registriert". Dann hab ich geweint natürlich, mein Gott, ein Weinkrampf nach dem anderen. Immer dachte ich: 'Das ist doch nicht wahr. Das kann doch nicht sein. Haben sie ihn auch nicht verwechselt... -Pause-
Deswegen, auch wenn der Frank jetzt mal was hat wie jetzt mit dem Auge... ich denk immer: ´Das kann doch gar nicht, weil es gab ja Kinder ohne Arme, einer ist mit dem Rumpf geboren.'

Frage: "Ohne Arme, ohne Beine?"

Ohne Arme, ohne Beine. Und der Sohn von der Frau T. ist clever heute, der leitet eine Firma. Der hat keine Beine und die Ärmchen nur Stumpen. Und der mit dem Rumpf der geht die Treppe runter, der hopst so. Und der ist auch so clever. Oder von der Frau Dr. W. die Tochter ist Rechtsanwältin und immer so super drauf. Wenn die zu uns ins Cafe kam und ich hab die bedient, die war so gut drauf, machte sich ne Zigarette an mit ihrem Stumpen. Mit den Füßen. "Nee", sagte sie, "bloß nicht helfen. Ich muss das ja allein. Zuhause in meiner Wohnung muss ich das ja auch alleine machen."

Frage: "Gab's da eigentlich mal ne Entschädigung?"

Das kann ich nicht sagen. Ich geh davon aus. (Anmerkung: 1970 endet der Contergan Prozess ohne Urteil)

Frage: "Und wie sah die Flasche aus?"

Das war ne helle Flasche mit sonem grünen Zeug. Ich hab den Geschmack noch im Mund. Weil das schmeckte auch gut. So ein bisschen Pfefferminzartig. Da hab ich jeden Abend einen Esslöffel genommen. Ich wusste ja nicht, dass das schädlich ist. Aber ich war eigentlich total ruhig. Auch wenn ich wach wurde, ich konnte wieder einschlafen, was ich vorher alles nicht konnte. Das war schon ein Teufelszeug.


© Dieter Rehnen <info@deutsche-geschichten.de>

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